Über die Grenze, die sich vor das Verschwinden setzt

Warum nur kommt mir das Phänomen der Grenze bloß immer so furchtbar künstlich vor?

Ich suche nach einer Welt, die grenzenlos ist, die ewig ist und die alles umfasst, die vor allen Dingen mich selbst umfasst. Alles auf mich beziehen, mit allem eins sein. Alles können, alles ausprobieren. Allen alles sein.

Ich verliere die Kontrolle über all die Möglichkeiten, die sich mir darbieten. Was ich nicht eingrenzen kann, kann ich erst recht nicht kontrollieren. Nehme ich keine Eingrenzung vor, laufe ich Gefahr, in all der Bodenlosigkeit zu verschwinden.

Ich tauche ein in ein Meer voller Möglichkeiten, tauche vollständig ab, werde unfähig zu sehen. Ich verliere meine Sehkraft, kann nur noch einen dumpfen Nebel vor meinen Augen erahnen. In mir manifestiert sich das Gefühl der Unzulänglichkeit.

Was passierte, grenzte ich ein? Will ich etwas hinterlassen, dann brauche ich den Mut, etwas von all dem, das mich umgibt, auszuwählen. Ich müsste mich trauen, es für mich in Anspruch zu nehmen, einen Teilaspekt der alles umfassenden Wirklichkeit herauszugreifen.

Es ist die Sterblichkeitsverleugnung, die sich hinter all der Rastlosigkeit verbirgt. Es ist kleingeistig, das Problem mit der Endlichkeit, mit der Zeit, die abläuft, die ich festhalten und einfangen möchte. Das kann ich nicht und das werde ich nicht. Doch ich werde nicht müde, es zu versuchen. Deshalb hüpfe ich wie ein angeschossenes Reh von Bühne zu Bühne, in der Hoffnung, keine von ihnen auszulassen.

Meine Rolle kommt der eines Statisten gleich, der den Auftrag bekommen hat, zügig durch das bestehende Bühnenbild zu laufen und sich dabei im Hintergrund zu halten. Weder ich sehe dabei etwas, noch hat irgendjemand anderes die Chance, mich zu bemerken. Ich füge mich in ein Schauspiel und bleibe dabei der Statist, dem immer wieder eine andere, bedeutungslose Rolle zuteil wird. Ich bemerke nicht, dass ich zu einer Marionette geworden bin, weil ich mir doch immer so furchtbar beschäftigt vorkomme.

Ich nutze die Geschäftigkeit, um die Wirklichkeit abzuwehren. Vor ihr bin ich immer auf der Flucht. Aus Feigheit, mich zu entscheiden. Aus Zwang, zu vergleichen, abzuwägen, statt zielsicher und mutig nur einen einzigen Weg auszuwählen, und diesen wunderbar bunt und schillernd zu gestalten.

Es braucht Mut, hinzusehen und das altbekannte Muster der ewigen Verleugnung nicht mehr zu bedienen. Es ist groß, aufzustehen, wegzugehen, eine kleine Welt in sich zu tragen und an ihr festzuhalten. Jede Sekunde nimmt etwas mit sich fort, das wusste auch Antoine, aber was wäre, wenn es etwas in uns gäbe, etwas Dauerhaftes, das man zu bewahren imstande wäre? Jeder trägt den Greis in sich, jeder trägt den Staub in sich.

Es braucht Mut, sich in eine Richtung zu bewegen, ohne jeden anderen, nicht eingeschlagenen Weg, fürchterlich zu bedauern. Während ich dasitze und darüber sinniere, dass ich mich nicht in der Lage sehe, eine Entscheidung zu treffen, schwinden all die Möglichkeiten, werden farblos und nicht mehr greifbar. Die Angst davor, dass alles verschwindet, mündet am Ende darin, dass es das tatsächlich tut.

Meine Grenzenlosigkeit ist ein Schrei meiner Sehnsucht, ein schriller, verzweifelter Schrei nach etwas, das bleibt, bevor alles zu Staub wird.

Warum uns unsere Sterblichkeit Angst macht

Die Zeitspanne, auf die wir als Mensch tatsächlich Einfluss nehmen können, ist sehr kurz. Warum verpassen wir es so oft, die Gegenwart zu gestalten? Warum verteilen wir unsere Zeit oft willkürlich, als sei sie ein ersetzbares Spielzeug? Der römische Philosoph und Stoiker Seneca hinterfragt die menschliche Tendenz, „das Vergangene zu vergessen, das Gegenwärtige zu vernachlässigen und vor der Zukunft Angst zu haben“.

Dass wir Menschen sterblich sind, ist eine bekannte Tatsache. Wir wissen, dass unsere Zeit hier auf der Erde begrenzt ist. Doch wie oft blenden wir diese Tatsache aus? Wie oft im Alltag werden wir getrieben von einer Aufgabe zur nächsten? Wie oft machen wir uns selbst völlig automatisch zur Marionette? Wem schenken wir unsere Zeit? Wie willkürlich verteilen wir unser Leben? Wie oft nehmen wir uns überhaupt die Zeit, uns diese Fragen zu stellen? Streben wir nach Antworten? Warum streben wir nicht nach Fragen?

Ich denke, dass viele uns von ein „Lobdefizit“ (Funny van Dannen) haben. Ein anderer soll uns loben, uns Aufmerksamkeit schenken, gut zu uns sein. Doch wo bleibt der eigene Anteil? Geben wir uns selbst genügend Aufmerksamkeit? Welcher Teil unseres Lebens gehört tatsächlich uns selbst?

Es ist nur der gegenwärtige Moment. Etwas anderes besitzen wir nicht. Die Gegenwart legt fest, wer wir in der Zukunft sein werden. Warum nehmen wir sie nicht wichtiger?

Die Verdrängung der Sterblichkeit ist ein alltägliches Phänomen. Letztlich haben wir Angst davor, nicht genügend Zeit zu haben. Doch Zeit wofür? Womit füllen wir unsere Zeit? Warum sind wir so gierig nach Zeit? Hoffen wir auf eine Zurückerstattung unserer ungenutzten Jahre?

Nein, es wird keine Zurückerstattung geben. Aber es gibt unsere Erinnerungen. Und wie unsere Erinnerungen aussehen, entscheiden wir selbst. Durch die Gestaltung unserer Gegenwart. Erinnerungen sind unantastbar und das ist es, was sie so wertvoll macht. Erinnerungen wachsen aus lebendiger Energie, aus dem Innehalten, aus der Aufmerksamkeit, die wir den Dingen schenken.

Womit sind wir immer so beschäftigt? Und macht uns unsere Sterblichkeit vielleicht nur deshalb Angst, weil wir die Gegenwart nicht zu nutzen verstehen? Weil wir unser Leben in die Zukunft verschieben? Und weil die Zukunft niemals so unendlich sein kann wie unsere Prokrastination?